Böses Erwachen?!

[Anne]

"Ich hätte mir ansonsten auch vorstellen können, dass die anderen sich Ihnen gegenüber anders verhalten als Sie es gewohnt waren, eben weil sie wussten, dass für Sie nichts echt ist. Können Sie mir folgen? Ich versuche an einem Beispiel zu erklären, was ich meine. Stellen Sie sich vor, Sie würden mich hier besuchen kommen, weil Sie wirklich etwas auf dem Herzen hätten, was Sie sehr belastet. Es wäre Ihnen wichtig und ein großes Anliegen darüber zu reden. Aber ich würde Ihnen nur entgegen bringen, dass es eigentlich ganz egal ist, was Sie sagen. Es spiele eh keine Rolle, da es nicht echt für mich ist. Es wäre aber real für Sie. Nun weiß ich nicht, ob sich das überhaupt so zugetragen hat. Aber bleiben wir trotzdem Mal bei dem Beispiel. Welche Gefühle würde meine Antwort in Ihnen auslösen? Wie würden Sie reagieren?"
Auch Xid nippte vorsichtig an dem Tee. Er nickte Jolene kurz anerkennend zu um ihr zu zeigen, dass Sie sich durchaus in der Kunst der Teezubereitung verbessert hatte.

[goldie]

Xid hatte sie tatsächlich so weit gebracht, dass sie sich auf dieses Gedankenspiel einließ.
"Kommt drauf an, wie wichtig mein Anliegen ist und wie sehr Sie mich provozieren. Dann würde ich Ihnen vielleicht einen Blasterschuss verpassen und fragen, ob der sich auch nicht echt anfühlt. Aber das ist nicht miteinander vergleichbar. In Ihrem Beispiel wäre ich un der realen Welt und nicht hier. Was soll die Frage überhaupt?"

[Anne]

"Sagen wir Mal, die Personen in ihrem Traum sind Ihnen so gut bekannt, dass sie sich genauso verhalten wie sie es in der Realität tun würden. Nehmen wir Ihren Freund als Beispiel. In dieser Wirklichkeit hat er gerade einen schweren Verlust zu verarbeiten. Vielleicht hat er auch Schuldgefühle oder benötigt Trost. Und Sie suggerieren ihm, dass all das ohnehin keine Rolle spielt. Mit jedem Mal, in dem Sie darauf bestehen, dass die Gefühle und Gedanken Ihrer Umwelt irrelevant sind entfernen Sie sich weiter von ihr und somit auch von den Personen, die ihnen etwas bedeuten. Wenn wir jetzt annehmen, dass es in der nächsten Zeit kein Erwachen für Sie geben wird - worauf möchten Sie dann hinarbeiten? Wollen Sie Ihre Angehörigen vor den Kopf stoßen und sie dadurch potentiell verlieren? Oder wollen Sie sich so verhalten, als wären es die denkenden und fühlenden Wesen, sie Sie kennen und sich somit weiterhin ihre Nähe und Zuneigung sichern?"

[goldie]

Jolene dachte nach. "Der Enric hier hat sich schon von mir entfernt. Am Anfang hat er sich noch sehr um mich gekümmert. Jetzt sind wir zwar immer noch fast die ganze Zeit zusammen, aber wir reden kaum noch. Ich habe ja auch am Anfang so getan, als würde ich ihn ernst nehmen. Ja, ich hätte ihm zugehört wegen Koi. Aber er hat einfach durchschaut, dass Koi für mich nicht tot ist und hat sich nicht trösten lassen. Egal, was ich mache, alles ist Banthamist. Ich habe keine Ahnung, wie lange das hier noch dauert. Aber wenn es noch Tage oder Wochen sind, natürlich will ich dann in seiner Nähe sein. Ein falscher Enric ist besser als gar keiner." Sie seufzte.

[Anne]

"Ich schlage ja nicht vor, dass Sie so tun sollen als ob Sie plötzlich Ihre Meinung über diese Realität geändert hätten. Ich denke nur, es könnte hilfreich sein anzuerkennen, dass dies hier für alle um Sie herum die einzige Wirklichkeit ist, die wir haben. Außerhalb dieser Welt existiert niemand genauso wie hier noch einmal. Deshalb tun Sie gut daran, die Leute hier in dem ernst zu nehmen was Sie beschäftigt", sagte Xid. Er trank etwas von seinem Tee, dann fragte er relativ beiläufig: "Wie kann ich mir eigentlich Ihre Nächte vorstellen? Schlafen Sie gut?"

[goldie]

"Bis auf die erste Nacht, ja. Owen versorgt mich mit Schlafmittel. Was schon irgendwie verrückt ist, in einem Alptraum Schlaffmittel zu nehmen, damit man nicht noch weitere Alpträume hat. Aber ich bin nicht traurig drum."

Sie dachte über die vorigen Worte von Xid nach. "So tun, als hätte ich meine Meinung geändert..." Sie lächelte plötzlich. "Doc, Sie sind genial!" Sie schien begeistert. "Oder ich sollte sagen, ich selbst bin genial. Es war jedenfalls genau richtig zu Ihnen als 'weise Figur' in meinem Traum zu gehen, dann dadurch bin ich jetzt endlich auf einen Ansatz gekommen. Zumindest, wie ich Enric hier zurückbekomme, solange ich festhänge. Wenn Sie mich jetzt noch auf die Idee bringen, wie ich wieder aufwachen kann?"

Sie schaute in Xids fragendes Gesicht. "Sie wollen wissen, was ich vorhabe?" Sie grinste siegessicher. "Ganz einfach. Ich sage sie haben mich geheilt." Sie machte Gänsefüßchen in die Luft. "Sie haben mich zur Vernunft gebracht und ich habe akzeptiert, dass das hier echt ist, und verhalte mich entsprechend. Ich infiltriere einfach meinen eigenen Traum. Das ist wirklich genial!" Sie strahlte den Therapeuten an.

[Anne]

Oh je, dachte der Therapeut. Nun ja, das war abzusehen gewesen. Es war nicht die erste eigenwillige Interpretation seiner Worte durch seine Patientin. "Hm, nun ja es würde Sie zweifelsohne weiterbringen. Aber falls es durch irgendeine Unachtsamkeit durch Sie ans Licht kommt, stelle ich mir das sehr schwierig vor. Unehrlichkeit war in Ihrer Beziehung schon zuvor ein Thema, das Sie beide voneinander entfernt hat", merkte Xid an. "Sicherer wäre es wahrscheinlich bei der Wahrheit zu bleiben und einfach nur etwas mehr Empathie für die Figuren Ihrer Welt aufzubringen."
Xid dachte über Jolenes Ausführungen bezüglich der Nächte nach. Schlafmittel also, so so. Hatte sie sich doch dazu durchringen können. Gut für sie, schlecht für seinen anderen Patienten. Aber er würde jetzt nicht danach fragen. Diese Zeit gehörte Jolene. Falls Enric rückfällig geworden war mußte er das wohl selbst mit ihm besprechen.
"Was war in der ersten Nacht? Da hatten Sie... einen Traum im Traum? Oder waren Sie zwischendurch wach?"

[goldie]

"Hey, Sie haben mich noch nicht lügen sehen. Ich bin anerkannte Expertin. Hauptsache Sie halten die Klappe. Hm. Andererseits kennt mich der echte Enric sehr gut. Vielleicht also auch dieser hier. Und der Traum arbeitet sowieso gegen mich. Bei meinem Pech kommt es vielleicht tatsächlich so, wie Sie sagen. Aber was soll denn Empathie helfen, wenn er weiß, dass ich ihn nicht für real halte?"

"In der ersten Nacht habe ich von Kois Tod geträumt. Das, was ich Ihnen vorhin erzählt hatte. Nein, ich war zwischendurch nicht wach."

[Anne]

"Mein Vorschlag wäre, es genau so zu sagen, wie es ist - dass Sie derzeit noch nicht daran glauben können, dass dieses hier die echte Welt ist. Dass Sie aber versuchen wollen, sich an die Gegebenheiten anzupassen und so zu leben als wäre es die Realität - was dann bedeutet, keine lebensgefährlichen Spiele mit Granaten mehr, keine Äußerungen, die Ihr Gegenüber glauben lassen, dass Sie es nicht für echt halten, sich nicht mehr von Ihren Freunden bewusstlos schlagen lassen... Leben Sie einfach wie sie es üblicherweise getan hätten. Und bezogen auf Ihren Traum in der ersten Nacht. So wie ich es verstanden hatte ist Koi doch tatsächlich in dieser Welt in der Nacht gestorben? Vielleicht war das gar kein Traum innerhalb dieses Traums. Sondern nur ein Teil dieser Realität...? Denn Sie müssen wissen, dass es nicht möglich ist innerhalb eines Traumes etwas anderes zu träumen und dann an selber Stelle mit dem vorherigen Traum fortzufahren."
Mit seiner letzten Aussage lehnte er sich recht weit aus dem Fenster. Xid war sich nicht vollkommen sicher darüber, ob dies wirklich unmöglich war. Aber es war Teil seiner Strategie. Also brachte er es selbstbewusst herüber als würde es auch um einen Fakt handeln.

[goldie]

Jolene wirkte skeptisch: "Und diese Taktik soll mir helfen, dass Enric hier bei mir bleibt? Selbst wenn ich mich so verhalten würde wie in echt, wir wissen beide, dass es nur eine Farce ist." Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. "Aber vielleicht wäre es auch zu theatralisch so zu tun, als hätten Sie mich mit einem Fingerschnippen überzeugt. Hm. Ich glaube jetzt weiß ich, wie wir das anstellen. Ich sage Enric und den anderen, dass ich in Betracht ziehe, dass ich doch nicht träume. Weil Sie mir Zweifel eingeredet haben." Sie nickte, bestätigte sich so selbst, dass das eine gute Idee war. "Und weil ich diese Zweifel habe, werde ich mich hier so normal wie möglich verhalten. Das ist doch ein Plan, oder?"

Sie lauschte seinen Ausführungen zum Träumen. "Naja, genau genommen war es ja kein Traum im Traum. Erst hatte ich den Traum von Koi, dann den jetzigen, der sich auf den ersten bezieht. Aber was macht es für einen Unterschied? Schon möglich, dass diese Dinge hier genauso passiert sind, wie ich sie geträumt habe. Nach dem, was mir Enric erzählt hat, würde das durchaus passen. Na und?" Jolene schaute Xid fragend an.

[Anne]

Zu ihrem Vorhaben meinte er bloß: "In Ordnung, versuchen Sie das, wenn Sie es so für das beste halten."
Er hörte Jolene bezüglich ihrer Träume zu, dann sagte er: "Ich habe da eine Idee. Wie gesagt, es ist vollkommen unmöglich innerhalb eines Traums einen anderen Traum zu haben. Also gibt es nur eine logische Konsequenz, was Sie jetzt tun können. Setzen Sie das Schlafmittel ab, das Owen Ihnen gegeben hat. Es gibt dann zwei Möglichkeiten: die erste ist - nichts passiert. Sie haben keine Albträume in der Nacht und träumen diesen Traum hier weiter. Dann haben Sie absolut nichts verloren. Die zweite Möglichkeit: Sie haben einen Albtraum. Danach werden Sie erwachen. Entweder hier, falls dies doch die Realität ist, oder anderswo. In jedem Fall wird die Welt nach diesem Albtraum die echte sein. Dann wissen Sie zumindest, woran Sie sind."
Xid ging fest davon aus, dass Jolene ohne das Mittel weitere Albträume haben würde. Es war monatelang vorher so gegangen. Warum sollte es jetzt plötzlich anders sein? Dann, wenn sie schweißgebadet aus diesen Träumen hochschrecken würde, würde ihr der Unterschied klar werden. Sie würde erkennen, dass dies hier eine Welt war, aus der es kein Erwachen gab. Zugegebenermaßen nicht die sanfteste Therapie. Immer immerhin war es einen Versuch wert, sie auf diese Weise aus ihrem Zustand herauszuholen, der ihr auf Dauer nur schaden würde.
"Was halten Sie von diesem Vorschlag?"

[goldie]

Jolene dachte über seinen Vorschlag nach. Sie hing hier seit Tagen fest. Sie hatte zwar Angst vor der Realität, doch sie wusste auch, dass sie es niemals auf Dauer hier würde aushalten können. Vielleicht war das tatsächlich der Ausweg nach dem sie gesucht hatte. Doch noch war sie nicht ganz überzeugt.
"Dass ich einen Alptraum habe und hier wieder erwache, wird nicht passieren. Entweder wache ich hier traumlos auf, wie in den Nächten davor. Oder ich hänge im nächsten Alptraum fest. Und dann im nächsten..." Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. "Und dort gibt es dann keinen Enric mehr. Oder einen, der mich foltert. Warum sollte ich das bisschen hier, was ich habe, riskieren? Warum glauben Sie, dass ich nach einem anderen Alptraum aufwachen würde?"

[Anne]

"Üblicherweise hatten Sie sonst auch nicht mehrere Albträume hintereinander. Sie waren jedes Mal so schockiert davon, was Sie da gesehen haben, dass Sie davon wach geworden sind. Eine ganz normale Reaktion, die ich hier auch erwarte. Ich kann Ihnen nur raten, sich dem zu stellen. Sie können nicht für immer in einer Welt existieren, die für Sie bloß zum Schein vorhanden ist. Sie machen es sich unnötig schwer, je länger Sie es herauszögern", behauptete Xid.

[goldie]

"Hm, da ist was Wahres dran. Ich sitze hier eh schon viel zu lange fest. Ein Alptraum wie ich sie sonst habe, könnte mich tatsächlich endlich wecken." Sie nickte entschlossen und stand auf. "Danke Doc, das war genau der Rat, den ich gebraucht habe." Dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte. Sie streckte ihre Hand aus, um sich mit einem festen und dankbaren Händedruck von ihm zu verabschieden.

[Anne]

Auch Xid erhob sich. Er gab ihr die Hand und lächelte Jolene zuversichtlich an. "Ich wünsche Ihnen alles Gute. Besuchen Sie mich gerne wieder in der Realität, in der Sie erwachen werden."
Als Jolene sich zum Gehen wandte fügte Xid noch hinzu: "Es gäbe da noch eine Sache, die ich hier für Sie tun könnte. Wenn Sie sich bereit fühlen kann ich Ihnen zeigen, wie der Krieg hier verlaufen ist. Ich weiß, es spielt gerade keine Rolle für Sie weil Sie meinen, diese Sphäre ohnehin bald zu verlassen. Aber vielleicht sind Sie ja doch neugierig über einen möglichen Ausgang? Ich denke, es könnte Ihnen helfen sich hier schon einmal damit zu beschäftigen."
Xid dachte, dass es problematisch sein könnte falls Jolene erst morgen davon erfuhr. Sie würde meinen, dass heute ja noch alles in Ordnung gewesen sei, dass sie nichts davon gehört habe, dass einige ihrer Bekannten verstorben waren. Dementsprechend würde möglicherweise ihre Derealisation wieder einsetzen. Seine Patientin würde sich vielleicht erneut in einem Albtraum wähnen. Dem galt es vorzubeugen, in dem er sie schon heute damit konfrontierte. So würde sie morgen in einer konstanten Welt erwachen, die morgen noch genauso war wie am Tag zuvor. Es würde schlimm für sie sein, aber es könnte auch zu einer Gewissheit beitragen, dass dies die Realität sei. Erwartungsvoll schaute der Therapeut die junge Frau an.