Widukinds Wächter

Es war stockfinster, als Enric erwachte. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen ab die Dunkelheit. Das erste, was ihm auffiel, war ein kleines, rotes Licht. Dann noch eines, und ein weiteres. Es mochte ein Dutzend sein. Rotes Glühen, wie die Augen wilder Tiere, die ihn nachts anstarrten.

Enric bemühte sich, möglichst kein Geräusch zu machen, als er sich langsam aufrichtete und nach seinem Lichtschwert tastete. Gleichzeitig spürte er nach dem Kor um sich herum, um in Erfahrung zu bringen, mit wie vielen Lebewesen er es zu tun hatte.

Enrics Hand tastete ins Leere. Stattdessen fühlte er zerschlissene Kleidung. Er konnte etwa zehn Lebensformen in unmittelbarer Nähe spüren.

Er stand auf, versuchte im Dunkel um sich herum irgendetwas zu erkennen. "Jolene?", flüsterte er nervös. "Owen? Akaavi?"

Niemand antwortete. Langsam gewöhnten sich Enrics Augen an die Dunkelheit. Er erkannte schemenhaft Gestalten, dort, wo die Lichter waren. Das schwache Leuchten war bei allen auf Halshöhe anzusiedeln. Jetzt bemerkte Enric auch den schwachen, roten Lichtschimmer an seinem eigenen Hals.

Enric spürte, wie die Panik nach ihm griff und zwang sich, ruhig zu atmen. Er dachte an Techniken, die er bei Xid gelernt hatte um ruhig bleiben zu können. Als er sich halbwegs gesammelt hatte tastete er nach seinem Hals und schaute an sich hinunter. Was trug er da eigentlich? Wo waren seine Waffen?

Enric spürte das Sklavenhalsband. Er fühlte sich genauso an wie bei seiner Gefangenschaft beim KdwM. Der Typ, in dem ein kleiner Sprengsatz eingebaut war. Er konnte seine Kleidung erkennen. Alt, verschlissen, schmutzig. Nun erkannte Enric, dass die anderen hier in der gleichen Situation waren, wie er. Eingepfercht in eine... Ja, was eigentlich? Er konnte raue Höhlenwände ausmachen. Es gab eine Felsspalte, möglicherweise ein Fluchtweg?

Es gibt keine Gefühle, sagte er sich. Und noch eine Gewissheit gab ihm Halt, die er damals nicht gehabt hatte. Das Kor ist mit mir. Es wird alles gut werden. Und wenn ich es selbst nicht schaffe, dann werden die anderen mich finden Diese Gedanken halfen ihm, nicht vor Angst den Verstand zu verlieren. Vorsichtig tastete der junge Mann sich zu der Felsspalte vor.

"Enric, nein!" flüsterte eine heisere, weibliche Stimme, die ihm seltsam bekannt vorkam. Sie stammte von einst Gefangenen. Er war zu weit entfernt, um Details ihres Gesichts ausmachen zu können.

Er hielt inne und wandte sich um. Wo war diese Stimme hergekommen? Sofort ging er zu der Sprecherin hin.

Auf den ersten Blick konnte er dieses graue, ausgemergelte Gesicht nicht zuordnen. Dann erkannte er die Frau doch: Lizzy, Aurens jüngere Schwester. "Du darfst sie nicht auf dich aufmerksam machen, dann lassen sie dich am er ehesten in Ruhe." Ihre gebrochene Stimme war kaum wiederzuerkennen. Nichts war von der ungestümen Lebenslust dieser jungen Frau übrig geblieben.

"Lizzy!?" Enric war überrascht aber bemühte sich dennoch leise zu sprechen. Kurz schloss er seine alte Bekannte in seine Arme, ließ sie aber sogleich wieder los. "Was machst du hier? Was ist passiert?"

Lizzy erwiderte die Umarmung nicht. Ihr Körper fühlte sich merkwürdig schlaff und ausgemergelt an. Sie senkte den Blick. "Sei einfach still. Sonst holen sie dich. Wie Auren und diese andere Frau."

"Auren?" Seine Augen weiteten sich vor Angst um sie. "Was ist passiert? Wohin haben sie deine Schwester gebracht?"

Lizzy schüttelte den Kopf. "Niemand, der geholt wurde, kam je zurück. Bitte bleib. Bitte." Sie hustete. Anscheinend hatte sie ihre Stimme lange nicht benutzt.