Jolene träumt...

[Anne]

Nach dem Gespräch mit Enric war es Jolene tatsächlich recht bald gelungen, wieder einzuschlafen.

Sie fand sich in einem wohl bekannten Zimmer wieder. Es gab zwei gemütliche Sessel und ein kleines hölzernes Tischchen in der Mitte, auf dem sich bereits zwei duftende Tassen Tee befanden. Ein Regalbrett an der gegenüberliegenden Wand war gefüllt mit Büchern und dekorativen Bonsai Bäumchen, die jemand liebevoll zurechtgestutzt hatte. Jolene saß in einem der Sessel. In dem anderen nahm Xid Duan Platz, der sie freundlich anlächelte.
"Schön, dass Sie da sind, Lorraine", begrüßte er sie. "Wie geht es Ihnen?"

[goldie]

Jolenes Miene verfinsterte sich in dem Moment, in dem sie mit ihrem echten Namen angesprochen wurde. "Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Sie mich nicht mit diesem Namen ansprechen sollen!" brauste sie auf.

[Anne]

"Ich weiß, dass Sie sich wünschen würden, dass ich den Namen verwende, den Sie sich gegeben haben. Lassen Sie uns jedoch nicht unsere wertvolle Zeit opfern, um darüber zu streiten. Bitte erzählen Sie: Wie fühlen Sie sich zur Zeit? Was beschäftigt Sie im Moment?"
Xid nahm seine Teetasse in die Hand und bedachte seine Patientin mit einem geduldigen, interessierten Blick.

[goldie]

Jolene atmete durch. Griff nach der Teetasse und trank einen Schluck. Auch das beruhigte sie.
"Mir geht es relativ gut im Moment", antwortete sie. "Wir sind gerade auf dieser Mission, die doch etwas komplexer ist, als wir angenommen hatten." Jolene war im Traum nicht bewusst, dass sie nicht gleichzeitig auf Mission sein und eine Therapiesitzung haben konnte. Deswegen redete sie darüber, was sie in der Tat gerade beschäftigte.
"Der KdwM ist aufgetaucht und mischt hier die Bevölkerung auf. Sucht nach Artefakten. Natürlich werden wir denen das Handwerk legen, wir sind ja eine schlagkräftige Truppe. Das einzige, was so richtig Stress gemacht hat, war Enrics Ex. Aber die wird morgen erstmal abgeladen und um alles weitere kümmere ich mich dann, wenn wir auf Gateway sind."

[Anne]

Xid nickte langsam, nippte an seiner Tasse und stellte sie schließlich ab.
"Klingt abenteuerlich. Sie und ihre Freunde auf gefährlicher Mission gegen das Böse. Doch es gibt die Aussicht, dass am Ende alles gut wird. Hmm, das passt ins Bild... Nur an einer Stelle ist Ihnen Ihre Welt zu eintönig, zu schwarz und weiß. Sie suchen erneut nach einem Konflikt auf Ihrer Beziehungsebene. Sie bauen jedes Mal einen ein, mit Enric... beziehungsweise Neil. Das ist äußerst interessant."

[goldie]

"Was soll das heißen, ich suche immer einen Konflikt mit Enric? Moment mal, Neil? Neil ist schon lange Vergangenheit. Der hat doch überhaupt nichts mit Enric zu tun."

[Anne]

Xid sah Jolene eine Weile an. War das... Bedauern auf seinen Zügen?
"Lorraine... Erinnern Sie sich nicht? Wir haben darüber gesprochen...", begann er sanft. Er lehnte sich etwas vor zu ihr und sprach weiter. "Sie haben den plötzlichen Tod von Neil damals nicht richtig verarbeiten können. Also erschufen Sie sich zu Ihrem Trost gedanklich die Person, von der Sie glauben, dass er so geworden wäre, hätte er die Chance dazu bekommen erwachsen zu werden. Ein Archäologe, mit lockigem Haar, im Grunde genommen ein netter, sanftmütiger Zeitgenosse... Vielleicht etwas überidealisiert in Ihrer Vorstellung, insbesondere mit diesen Superkräften, die Sie ihm seit einiger Zeit zuschreiben, aber das liegt wohl an Ihren Schuldgefühlen ihm gegenüber und an Ihrem drängenden Wunsch nach Schutz... Aber es ist und bleibt eine Version von Neil, die Sie sich wünschen."

[goldie]

"Was reden Sie denn da?" Diesmal fiel Jolene nicht einmal auf, mit welchen Namen sie angesprochen worden war. "Neil ist nicht tot. Ja, er war im Krankenhaus. Von mir aus, das war meine Schuld. Aber er lebt! Was erzählen Sie denn da einen Banthamist über Enric? Natürlich ist er real! Sie haben ihn doch selbst therapiert!"
Was erdreistete sich dieser Therapeut? Langsam wurde Jolene wütend.

[Anne]

"Sie... Sie haben heute Ihre Tabletten heute nicht eingenommen, nicht wahr?", fragte der Therapeut vorsichtig. Jolene sah, dass er sich darum bemühte, dass sie es nicht mitbekam, aber sie bemerkte, dass er heimlich einen Knopf drückte.
"Es ist in Ordnung. Beruhigen Sie sich. Ich glaube, dass Sie das, was ich gerade gesagt habe, sehr verärgert und verwirrt hat..."

[goldie]

Jolene war in der Tat verärgert und verwirrt. "Ich nehme keine Tabletten. Ich brauche keine Tabletten!" knurrte sie den Therapeuten an.
Sie sah, wie er den Knopf betätigte. Was wurde hier nur gespielt. Sie erwog, dass Xid Recht hatte. Sie hatte so viel Schreckliches erlebt, vielleicht war es einfach inzwischen zu viel geworden. Nein! Das konnte nicht sein! Entschlossen griff sie nach ihrem Blaster - ihre Hand ging ins Leere. Wahrscheinlich hatten sie ihr Drogen verabreicht und sie entwaffnet. Dem kurzen Impuls, ihn mit Machtblitzen zu bedrohen, widerstand sie. Sie würde sich auch so zu helfen wissen.
Sie atmete durch. "Okay, mal angenommen sie haben Recht..." Sie griff nach ihrer Teetasse. Mit einer blitzschnellen Bewegung zerschlug sie sie auf dem kleinen Tischchen. Mit der Scherbe, die sie in der Hand hielt, sprang sie auf. Sie versuchte die kurze Distanz zum Doc zu überwinden, um hinter ihn zu kommen und ihm die improvisierte Waffe an den Hals, dicht an seine Schlagader, zu halten.

[Anne]

Jolene ließ die Tasse an dem Tischchen zerschellen. Heißer Tee ergoss sich darauf. Xid versuchte noch aufzustehen, aber Jolene war schneller. In einer fließenden, blitzschnellen Bewegung gelang es ihr, sich hinter dem Therapeuten zu positionieren und ihm die Scherbe an den Hals zu halten.
"Lorraine, bitte tun Sie jetzt nichts Dummes... Sie -", begann Xid, doch dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit.
Eine Mirialanerin Mitte dreißig schob sich ins Zimmer. Sie balancierte ein Tablett. Darauf standen ein Wasserglas und ein Becherchen mit verschiedenen bunten Pillen. Die Frau trug einfache, weiße Krankenhausbekleidung. Während sie eintrat flötete sie schon fröhlich: "Na, wer braucht denn da einen kleinen Beruhigungscocktail? Haben wir unsere Medikamente heute wieder heimlich ins Klo gespuckt?"
Als sie durch die Tür gekommen war hob die Mirialanerin den Blick. Jolene meinte, Vela zu erkennen.
Vela ließ bei dem Anblick des offenbar in Lebensgefahr schwebenden Xids das Tablett fallen. Ein kurzer spitzer Schrei entfuhr ihr. Wasserglas und Pillenbecher fielen zu Boden. Das Wasserglas zerbrach jedoch nicht.
"Owen! Syron!", rief Vela in den Flur. Dann hob sie eilig die Hände. Jolene hörte schnelle Schritte auf dem Flur.

[goldie]

Jolene atmete durch. "Gut, warten wir auf Owen und Syron. Dann ist wenigstens jemand hier mit gesundem Menschenverstand." Jolene hielt die Scherbe weiter in Position. "Und sie bleiben schön ruhig Doc, ich will hier niemanden verletzen."

[Anne]

Der Doc rührte sich nicht. Es dauerte nicht lange, bis zwei Männer die Tür aufstießen. Hinter ihnen konnte man einen hellen, steril wirkenden Krankenhausflur erkennen. Beide waren wie Vela bekleidet mit einfacher Krankenpflegerkleidung. Sie trugen keine Waffen und keine Lichtschwerter. Trotzdem meinte Jolene, in diesen beiden Pflegern ihre Freunde wiederzuerkennen. Die Mirialanerin trat zur Seite, um nicht versehentlich zwischen die Fronten zu geraten.
"Nicht schon wieder", murrte der langhaarige, schmalere von beiden.
Der andere, ein breit gebauter sehr muskulöser Mann mit Narben im Gesicht Ende vierzig sprach Jolene unaufgeregt an: "So, Hühnchen. Jetzt ist es aber auch Mal gut. Lass den Quatsch. Schmeiß die Scherbe weg und setz dich erstmal. Wir wollen hier doch alle keinen Stress haben, oder?"
Nun mischte Xid sich doch ein. An die beiden Pfleger gewandt sagte er: "Bitte tun Sie ihr nicht weh. Es ist nun einmal gerade eine dieser Episoden... Miss Silverdust hat eigentlich sehr gute Fortschritte gemacht in letzter Zeit. Das lässt sich bestimmt mit etwas Ruhe und Geduld lösen..."

[goldie]

Nur am Rande registrierte Jolene, dass Xid sie nun auch vor den anderen mit dem Namen Silverdust in Verbindung gebracht hatte. Das war gar nicht gut.

"Haha, jetzt haben wir alle herzlich gelacht. Syron, hast du dir diesen Quatsch ausgedacht? Sehr kreativ. Haben wir heute den 'Wir verarschen Jolene mal so richtig Tag'? Bleibt ja da hinten stehen! Das kann sonst böse ins Auge gehen. Ihr sagt mir jetzt, wo Enric ist. Und was zum Huttenkartell hier gespielt wird."

[Anne]

Syron sah ziemlich ratlos drein. "Wer sind Jolene und Enric?", fragte er mehr seinen Kollegen als Jolene selbst.
"Na, Jolene ist doch ihr Phantasiename. Und Enric ist ihr ausgedachten Freund, von dem sie die ganze Zeit erzählt und mit dem sie immer spricht. Du weißt schon, der den wir nicht sehen können, weil er sich 'unsichtbar machen' kann..."
Owen hatte mit den Zeigefingern Anführungszeichen in die Luft gemalt. "Das könntest du echt langsam Mal wissen..."
Dann wandte Owen sich an den Therapeuten. "Also was denn jetzt? Das übliche Vorgehen? Sollen wir schon Mal ihren Vater verständigen?"
"Nein! Nein... Das wäre nicht gut in dieser Situation", antwortete Xid. Er suchte Velas Blick, ohne sich zu bewegen. "Bitte holen Sie Dr. Horain."
Die Mirialanerin huschte aus dem Zimmer und entfernte sich zügig.